«Geisterfahrer: Es ist faszinierend zu beobachten, wie Meinungsführer in Europa des 21. Jahrhunderts noch immer glauben, dass ihre Sicht auf internationale Konflikte, ihre (Doppel-)“moral” für den Rest der Welt bestimmend sein soll.»
Dass eine Mehrheit in Lateinamerika, Afrika und Asien einen differenzierten Blick auf die Welt hat, ficht sie nicht an. Wie einst zur Kolonialzeit berufen sie sich auf höhere Moral, Zivilisation und vermeintliche Werte, um die ungezogenen Kinder zu belehren in deren Ländern eine Blutspur hinterlassen wurde.
Wer eindimensionalen Sichtweisen auf Kriege und Konflikte widerspricht, ist wie zu Zeiten des Hurra-Patriotismus ein „Putinknecht“ und somit die Mehrheit der Welt: Ob der Papst, Lula, der UN Generalsekretär oder ein Straßenhändler in Lagos.
Wie die Kirche im Mittelalter führen sie mit Lautstärke und ideologischer Mobilisierung die letzte Schlacht gegen die Ketzer. Es ist wie beim Geisterfahrer, der sich beklagt dass ihm so viele Autos entgegen kommen.
Wir sind eine globale Minderheit, die es über Jahrhunderte gewohnt war die Welt zu dominieren. Der Abschied ist schmerzhaft, aber diese Welt ist vorbei:
Unser zuweilen scheinheiliges Verständnis von Demokratie wird behandelt als wäre es eine Einstellungsfrage. Als würde man im globalen Süden einfach nicht aufgeklärt („zivilisiert“) genug sein und als wären alleine korrupte Eliten das Hindernis. Im Zeitalter der Sesselgeneräle vor dem Smartphone und der Instagram und Turnschuh-Helden in den Redaktionsstuben wird in einem völlig verkürzten Verständnis der universellen Aufklärung alles zur Seite gewischt, was die eigene Weltsicht stören könnte:
Geschichte, Entwicklungspfade, Kolonialismus, ökonomische Strukturen, willkürliche Grenzziehungen, die Voraussetzungen von „westlicher Demokratie“ (zB die jahrzehntelange Plünderung des globalen Südens, um die eigenen sozialen Konflikte zu befrieden), die reale globale Machtverteilung (zB hunderte US Militärbasen weltweit), die Schwächen unserer eigenen Systeme (Parteispenden, Macht des Geldes, Medienkonzentration), die Nicht-Übertragbarkeit unserer Systeme auf fragile multiethnische Staaten, die ihre eigenen Wege zur Demokratie finden müssen, Interessenausgleich, religiöse und kulturelle Prägungen, die in bestimmten historischen Epochen Ordnungssysteme waren, um etwa sozialen Ausgleich zu schaffen u.v.m.
Wer auf unsere Völkerrechtsbrüche verweist, die weitere Völkerrechtsbrüche ermöglicht hätten, oder auf die Menschenrechtsverletzungen in Gaza betreibt nur „Whataboutism“. Über was wann gesprochen werden und was mit was zusammenhängt, darüber entscheiden die hohen Priester der Selbstgerechtigkeit.
Ich kann nur warnen: Die Welt ist nicht mehr die alte Welt. Der globale Süden interessiert sich nicht mehr für diese verschrobene Weltsicht. Es gilt der Satz von Gorbatschow: „Wer zu spät kommt den bestraft das Leben“ Und jener von Galileo Galilei: „Und sie dreht sich doch!“ Zur Thematik auch lesenswert @SporrerWolfgang https://jacobin.de/artikel/aussenpolitik-frieden-werte
(Quelle: Fabio De Masi)