Gesundheitssystem: In der Fortschrittsfalle
Denn auch wenn der Sieg über eine Krankheit oder ein Präventionsprogramm objektiv und messbar die Gesundheit fördert, kann dennoch eine Gesundheitsverschlechterung dabei herauskommen:
wenn eine hypochondrische Überaufmerksamkeit auf das Selbst das Ergebnis ist;
wenn wir Gesundheit für einen Stoff halten, den man nicht als Gabe zu empfangen hat, sondern sich aneignen und immer mehr davon haben wollen kann;
wenn wir denken, wir könnten Gesundheit rational planen, herstellen, machen;
wenn wir Gesundheit aus einem Mittel zum Leben zu einem Lebenszweck erheben und sie so missbrauchen;
wenn wir sie zum höchsten gesellschaftlichen Wert verklären, wodurch sie, die eigentlich auf Verborgenheit angewiesen ist, vollends verhindert wird;
und wenn wir uns somit die leidensfreie Gesundheitsgesellschaft zum Ziel setzen, in der jeder Bürger das Gesundheitssystem mit der Erwartung verknüpft, ihm gegenüber ein einklagbares Recht auf Gesundheit zu haben.
Die Gesundheitsgesellschaft treibt der Gesellschaft mit der Gesundheit die Vitalität aus – und so lange wird es im Vergleich mit anderen Gesellschaften Wettbewerbsfähigkeit weder in Lebenslust noch in Verantwortungsbereitschaft, noch in wissenschaftlichen oder industriellen Spitzenleistungen geben; und nur in Kombination dieser drei Merkmale wäre eine Gesellschaft vital und in diesem Sinne auch gesund.
Den Artikel gibt's hier. Er ist von Oktober 2002. Autor ist Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner.
Der Wettbewerb zwingt zur Erschließung neuer Märkte. Das Ziel muss die Umwandlung aller Gesunden in Kranke sein, also in Menschen, die sich möglichst lebenslang sowohl chemisch-physikalisch als auch psychisch für von Experten therapeutisch, rehabilitativ und präventiv manipulierungsbedürftig halten, um „gesund leben“ zu können. Das gelingt im Bereich der körperlichen Erkrankungen schon recht gut, im Bereich der psychischen Störungen aber noch besser, zumal es keinen Mangel an Theorien gibt, nach denen fast alle Menschen nicht gesund sind. Fragwürdig ist die analoge Übertragung des Krankheitsbegriffs vom Körperlichen auf das Psychische.