Ist die Mathematik real?
Das diskutiert Daniel Mansfield hier. Und kommt zu folgendem Schluss:
Is it real? Most cultures agree about some basics, like the positive integers and the 3-4-5 right triangle. Just about everything else in mathematics is determined by the society in which you live.
Ist sie real? Die meisten Kulturen sind sich über einige Grundlagen einig, wie die positiven ganzen Zahlen und das rechtwinklige Dreieck 3-4-5. So gut wie alles andere in der Mathematik wird von der Gesellschaft bestimmt, in der man lebt.
Ich teile diese Auffassung nicht. Warum, das möchte ich gerne erklären.
Mit dem Neopositivismus hänge ich einer philosophischen Haltung an, die zur Mathematik ein ganz spezielles Verhältnis hat. Neopositivismus bedeutet, dass man über Dinge spricht, die man wahrnimmt. Man bildet Theorien und Modelle, wie es zur Wahrnehmung kommt. Aber man weiss, dass man nie sicher sein kann, was die eigene Vorstellung von der Welt angeht hinsichtlich dessen, ob eine wie auch immer geartete Realität nun tatsächlich so existiert, wie man sich sie vorstellt. Und deshalb sagt man – im Gegensatz zum Kritischen Rationalismus – für gewöhnlich nichts über die Realität. Sondern man beschränkt sich darauf, über seine Vorstellung von der Welt zu sprechen sowie über die Evidenz, dass man vernünftigen Vorstellungen anhängt. Dazu beachtet man strikt den Primat der Empirie: egal, was man sich gedacht hat, wie es sein könnte, alles muss sich immer an dem messen lassen, was man wahrnimmt. Aller Glauben, der der Wahrnehmung widerspricht, ist fallen zu lassen. Deshalb auch der nur halb lustig gemeinte Spruch: Realität ist das, was nicht weggeht, wenn Du aufhörst daran zu glauben.
Was bedeutet das nun für die Mathematik? Was ist überhaupt Mathematik?
Zunächst ist Mathematik eine Sprache. Eine Sprache ist etwas Menschengemachtes. Was Menschen zusammen machen, bezeichnet man als Kultur. Und insofern stimmen wir Neopositivisten noch mit der eingangs dargestellten Vorstellung von Mathematik überein. Hier jedoch gehen die Ansichten auseinander:
Denn eine Sprache dient dazu, etwas zu beschreiben. Was jedoch wird mit der Sprache der Mathematik beschrieben? Wenn ich sage, 1 ist eine natürliche Zahl, 1/2 ist eine rationale Zahl und π ist eine reelle Zahl, was ist damit gemeint? Die Bezeichner 1, 1/2, π entstammen der mathematischen Sprache. Aber was bezeichnen sie?
Neopositivisten sagen: sie bezeichnen die mathematischen Objekte. Der Bezeichner π bezeichnet ein ganz bestimmtes Element der reellen Zahlen. Die Bezeichnung “reelle Zahlen” bezeichnet eine ganz bestimmte Menge von Zahlen. Das gilt jedoch nicht nur für Zahlen. Es gilt auch z.B. für Rechenanweisungen und sogar für Darstellungen und Abbildungen.
Ein Polynom ist eine Gleichung mit positiven natürlichen Hochzahlen für eine Unbekannte. Die Graphen von Polynomen sind die Parabeln. Wenn man über solche Gleichungen, die Rechenregeln (Algebra) solcher Gleichungen sowie über ihre Graphen, die Parabeln, spricht, dann spricht man über die mathematischen Objekte. Denn all diese Dinge eint eines: sie sind das, was mittels mathematischer Sprache beschrieben wird.
Die mathematische Sprache ist zweifelsfrei ein kulturelles Konstrukt. Aber wie sieht es mit den mathematischen Objekten aus? Gehen sie weg, wenn man aufhört, an sie zu glauben? Verschwinden sie mit der Sprache, wenn man einer anderen Kultur angehört, und eine völlig andere Sprache aus einer anderen Kultur benutzt? Ich denke nicht, dass das der Fall ist.
Es ist doch eine erstaunliche Erkenntnis, dass bereits die Ägypter zur Zeit des Pyramidenbaus um Dreiecke, rechte Winkel und eben Pyramiden wussten – und ganz offensichtlich auch, wie man vermessungstechnisch sinnvoll damit umgeht. Denn die Worte, die wir in unserer Kultur dafür verwenden, entstammen nicht dem Ägyptischen. Sondern unsere Worte entstammen der Grundlage unserer Kultur, die ihre Wiege im alten Griechenland hat. Wir nennen die Geometrie, mit der wir solche Objekte beschreiben, die Euklidische Geometrie, benannt nach Euklid von Alexandria. Der wohnte zwar in Ägypten, aber eben im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, und nicht im 3. Jahrtausend, aus dem die Pyramiden von Gizeh stammen. Wie ist das möglich?
Es ist möglich, weil man in völlig unterschiedlichen Sprachen ein und dieselbe Sache bezeichnen kann. Malus, Apple, Apfel bezeichnen alle dieselbe Frucht. Ringo heisst diese Frucht im Japanischen, Tafaha heisst sie im Arabischen. Was damit bezeichnet wird, ist jedoch immer dasselbe Objekt. Und genau so ist es mit der mathematischen Sprache: wie auch immer man sie formt und ausgestaltet, man spricht mit der mathematischen Sprache immer über dieselben mathematischen Objekte.
Dinge, die intersubjektiv immer gleich bleiben, sind jedoch die einzigen Dinge, denen man als Positivist Realität zuordnet: real ist, was nicht weggeht, wenn man aufhört, daran zu glauben – oder darüber zu sprechen. Das ist real, was alle gleichermassen wahrnehmen, gleich wer.
Da man sich bei der Empirie nie sicher sein kann, mathematische Objekte jedoch bereits vor dem geistigen Auge klar zu sehen sind, sind es ironischerweise die mathematischen Objekte, bei denen sich Positivisten als einzige sicher sind, dass sie real sind.
Alle mathematischen Objekte. Wobei man in verschiedenen mathematischen Sprachen durchaus auch über verschiedene mathematische Objekte spricht. Aber wenn man über dieselben spricht, meint man eben auch immer dieselben.
Mathematik ist real.