Ein neoliberales Projekt: der “March for Science”
Die neoliberale Ideologie hat mit den anderen selbstbestärkenden Glaubenssystemen gemein, dass Leute, die ihr anhängen, von ihrer Wahrheit ausgehen. Sie wird genauso unreflektiert geglaubt wie jede Religion, und ihre Extremisten sind genauso realitätsfremd wie Extremisten einer jeden Religion. Im Gegensatz zu Religionen kommen politische Ideologien jedoch oft weniger kultisch daher. Deshalb sind ihre Anhänger jedoch nicht weniger davon überzeugt, im Besitz der alles erklärenden Wahrheit zu sein.
Wie bei allen Ideologen hilft es oft nicht, vernünftig mit Neoliberalen über ihre Glaubensgrundsätze zu sprechen. Das ist um so problematischer, als dass zum Einen neoliberale Ideologie derzeit die auf dem Planeten vorherrschende politische Ideologie darstellt, sie zum anderen sich jedoch gedanklich im Mechanizismus des Dampfmaschinenzeitalters des 19. Jahrhunderts befindet. Big Data, letztlich die Massenüberwachung, Minority-Report-ähnliche Systeme und Konzepte wie “Precrime”, INDECT oder auch Predictive Policing sind Auswüchse dieser simplen, mechanizistischen Glaubensvorstellungen, in denen die Welt wie ein grosses Uhrwerk funktioniert, von dem man nur genügend wissen muss, um es vorherzusagen. Da kommt der Wunsch nach der Massenüberwachung der Gesellschaft her. Für Mechanizisten wie Neoliberale sind Menschen biologische Maschinen, die sich vorhersagbar verhalten. Man möchte “Evidenz-basierende Politik” machen, sprich: genügend Daten sammeln, damit man politisch “richtig” entscheiden kann. Der “March for Science” schliesst sich diesem Konzept auf seiner Homepage ausdrücklich an:
March for Science Mission
The March for Science champions robustly funded and publicly communicated science as a pillar of human freedom and prosperity. We unite as a diverse, nonpartisan group to call for science that upholds the common good, and for political leaders and policymakers to enact evidence-based policies in the public interest.
Der “March for Science” bevorzugt robust finanzierte und öffentlich kommunizierte Wissenschaft als Eckpfeiler der menschlichen Freiheit und des Wohlstandes. Wir vereinigen uns als eine diverse, nicht-parteiische Gruppe, um für eine Wissenschaft einzutreten, die das Gemeinwohl hochhält, und rufen politische Führer und Politiker auf, Evidenz-basierende Politik im öffentlichen Interesse umzusetzen.
Was sich hier wie das Fördern von Wissenschaft anhört, ist also dessen Gegenteil: denn mit Theorien wie der Theorie der Dynamischen Systeme oder der Quantenmechanik haben längst Theorien Eingang in den wissenschaftlichen Kanon gefunden, in denen eine Vorhersagbarkeit von Einzelereignissen auch bei vollständiger Datenlage nicht möglich ist – und das sogar im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich. Es gibt entsprechend wenig Anlass, davon auszugehen, dass ausgerechnet in den Humanwissenschaften bis hin zur Politik davon auszugehen ist, dort wäre die Sachlage etwa anders – wo man dort ausgerechnet auch noch mit dem Problem der Subjektivität konfrontiert ist.
Die damals z.B. von der Blair-Regierung in UK hochgehaltene, angeblich “evidenz-basierende” Politik ist die Grundlage für die Verarmung der Wissenschaft. Ihr entspringen das “Führen” von Universitäten “wie Unternehmen”, der Wahn, man müsse bei einem wissenschaftlichen “Projekt” vorhersagen können, was dabei als Ergebnis herauskommt (also den Weg zum gewünschten Ergebnis “erforschen”), dieser Politik entspringen das Bologna-Programm sowie das Ersetzen von Bildung durch Ausbildung. Als Wissenschaftler ausgerechnet dafür auf die Strasse zu gehen, sollte sich jeder wohl zweimal überlegen.