Der Verlust des kritischen Denkens oder die “lineare Erörterung”
Kritisches Denken ist nicht leicht. Es ist aber auch nicht so schwer, wie oft getan wird. Kritisches Denken heisst, Für und Wider einer Sache zu beschreiben und dann abzuwägen. Kritisches Denken bedeutet, sich nicht gleich auf eine Seite in einem Diskurs zu stellen, sondern sich zunächst einmal in jede Seite, eine nach der anderen, hinein zu versetzen, und dann daraus eine eigene Position zu entwickeln. Kritisches Denken ist nicht überkompliziert. Es muss also andere Gründe geben, weshalb es in der öffentlichen Diskussion so selten geworden ist.
Dass es selten geworden ist, zeigen Medienanalysen – aber man kann es auch an einem einfachen Beispiel selbst ausprobieren, z.B. anhand des beginnenden Syrien-Konfliktes. Wer immer von “Präsident Obama” auf der einen Seite und “Machthaber Assad” auf der anderen spricht, der denkt sich gerade nicht mehr zuerst in beide Seiten hinein. Denn wäre das der Fall, müsste man die Position dann wechseln und von “Machthaber Obama” und “Präsident Assad” sprechen. Das passiert jedoch nicht, ein kritisches Betrachten der Positionen findet nicht statt, vielmehr ein voreingenommenes aus einer einzigen Perspektive heraus. (Mann könnte Pejorativa wie “Machthaber” auch einfach ganz vermeiden, und bei der neutralen Bezeichnung “Präsident” bleiben.)
Aber nicht nur in der öffentlichen Diskussion ist das kritische Denken unterrepräsentiert; auch in der Schule wird es nun immer mehr durch Voreingenommenheit ersetzt. So gibt es z.B. auf dem Lehrplan für Gymnasien seit einiger Zeit die “lineare Erörterung”: statt dem klassischen Ansatz zu folgen, und aus These und Antithese eine Synthese zu entwickeln, wird einseitiges Betrachten bereits in der Schule gelehrt. In der verlinkten Quelle wird den Schülern erklärt:
Merke
Kann man die Frage nicht mit Ja oder Nein beantworten, musst Du die lineare Erörterung wählen.
Hier kannst du die Vor- und Nachteile (pro und contra) nicht gegenüberstellen, sondern musst eine klare Position beziehen und aus einer Perspektive argumentieren.
Entscheide Dich, ob Du für oder gegen etwas bist? Beides geht nicht.
Du fängst mit dem schwächsten Argument an und steigerst die Argumente.
Das wichtigste Argument kommt zum Schluss.
Welche Position der Schüler einnehmen soll, bleibt offen – dass er sich den vorherrschenden Machtverhältnissen anzupassen hat, wird nicht ausgesprochen. Das ergibt sich dann aus der Situation, dass jeder Schüler der Macht des Lehrers ausgeliefert ist, hier die “richtige” Position jeweils einzunehmen. Dass eine solch “lineare Erörterung” nichts mehr mit dem klassischen Bildungsideal gemein hat, dürfte augenscheinlich sein.