Afghanistan: Die nächste Truppen-Aufstockung
Krieg ist Frieden
»Ein Krieg ist wie der andere«, sagte der alte Mann verschwommen. Er hob sein Glas, und seine Schultern reckten sich wieder. »Auf Ihr Wohl!« […]
Die Proles, die gewöhnlich dem Krieg gleichgültig gegenüberstanden, wurden dadurch in einen ihrer periodischen Ausbrüche von Patriotismus versetzt. Die Raketenbomben hatten, als wollten sie hinter der allgemeinen Stimmungsmache nicht zurückstehen, mehr Menschen als sonst getötet. […]
Eine andere Bombe fiel auf ein unbebautes Terrain, das als Spielplatz diente, und riß mehrere Dutzend Kinder in Stücke. […]
In früheren Zeiten war ein Krieg fast seiner Definition nach schon etwas, das früher oder später zu einem Ende kam, gewöhnlich in Form eines unmißverkenntlichen Sieges oder einer ebensolchen Niederlage. Auch war in der Vergangenheit der Krieg eines der Hauptmittel, um die Verbindung der menschlichen Gesellschaften mit der gegebenen Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Alle Machthaber in allen Zeitaltern haben versucht, ihren Anhängern ein falsches Weltbild einzuimpfen, aber sie konnten es sich nicht leisten, eine Illusion zu ermutigen, die dazu angetan war, die militärische Stärke zu beeinträchtigen. Solange eine Niederlage gleichbedeutend war mit Verlust der Unabhängigkeit oder ein anderes unerwünschtes Ergebnis im Gefolge hatte, mußte man ernstliche Vorkehrungen gegen eine Niederlage treffen. Greifbare Tatsachen konnten nicht außer acht gelassen werden. In Philosophie, Religion, Ethik und Politik mochten wohl zwei plus zwei gleich fünf sein, aber wenn es sich um die Konstruktion eines Gewehrs oder eines Flugzeugs handelte, dann mußte es gleich vier sein. Untüchtige Nationen wurden immer früher oder später überwunden, und der Kampf um die Leistungsfähigkeit erlaubte keine Illusionen. Außerdem mußte man, um leistungsfähig zu sein, aus der Vergangenheit lernen können, was bedeutet, daß man eine ziemlich genaue Vorstellung von dem haben mußte, was sich in der Vergangenheit zugetragen hatte. Zeitungen und Geschichtsbücher waren freilich immer gefärbt und einseitig, aber Fälschungen von der heute üblichen Art wären unmöglich gewesen. Der Krieg war eine sichere Bürgschaft für Vernunft, und was die herrschenden Klassen betrifft, vielleicht das wichtigste aller Schutzmittel. Solange Kriege gewonnen oder verloren werden konnten, konnte keine Klasse ganz verantwortungslos sein.
Aber wenn der Krieg buchstäblich ein Dauerzustand wird, dann hört er auch auf, gefährlich zu sein. Wenn Krieg ein Dauerzustand ist, dann gibt es so etwas wie eine militärische Notwendigkeit nicht mehr. Technischer Fortschritt kann aufhören, und die offenkundigsten Tatsachen können geleugnet oder außer acht gelassen werden. Wie wir gesehen haben, werden für Kriegszwecke zwar noch Forschungen angestellt, die man als wissenschaftlich bezeichnen könnte, aber in der Hauptsache handelt es sich dabei um Phantasiegespinste, und die Tatsache, daß sie kein Resultat zeitigen, ist unwichtig. Leistungsfähigkeit, sogar militärische Leistungsfähigkeit, ist nicht mehr notwendig. Nichts in Ozeanien ist leistungsfähig außer der Gedankenpolizei.
(George Orwell, 1984)