Deutschland, wie wärs denn mit etwas Vernunft?
Derzeit wird in Deutschland diskutiert, Steuern und Abgaben zu senken. Der Grund: die Regierung hat einen grossen Überschuss erwirtschaftet. Bevor man jedoch nur die Einnahmenseite anschaut, wäre es vernünftig, sich auch anzuschauen, ob auf der Ausgabenseite alles stimmt – sprich: ob der deutsche Staat seiner Aufgaben gerecht wird und alle Leistungen und Infrastruktur, für die er verantwortlich zeichnet, auch tatsächlich so zur Verfügung stellt, wie es angemessen ist.
Jeder Bürger ist ja in der Lage zu beurteilen, ob eine Sache teuer oder günstig ist. Wenn man sich ein Auto kauft, sind da 10'000 EUR teuer oder günstig? Das kommt auf's Auto an: für einen nagelneuen 500er Mercedes ist das so billig, dass man einen Haken wittern würde, bekäme man ein solches Angebot. Für einen 20 Jahre alten Kleinwagen mit 150'000km auf dem Tacho ist es dagegen völlig übertrieben teuer. Wer ein solches Angebot bekommt, muss schon ein Trottel sein, um es anzunehmen. Soweit so gut. Ob etwas teuer oder preiswert ist, hängt also eng mit der Leistung zusammen, die man dafür erhält. So sollte man auch in der Politik werten. Wie sieht es also mit den Leistungen aus, die man für nun weniger Geld als Deutscher bekommt? Sind sie in Ordnung, der Preis also tatsächlich günstig, und man kann zukünftig dem Staat weniger Geld zur Verfügung stellen?
Schön wär's. Tatsächlich sieht es mau aus mit den staatlichen Leistungen in Deutschland. Die Altersarmut steigt, und die Aussichten sind exrem schlecht: ganze Bevölkerungsschichten werden im Alter verarmen, wenn das so weitergeht. Mit den Investitionen ist Deutschland komplett hinterher. Öffentliche Einrichtungen wie Schulen oder Schwimmbäder sind en masse marode. Die Autobahnen sollen privatisiert werden, es sei kein Geld dafür da. Die Leistungen der Bahn sind sprichwörtlich schlecht. Sozialleistungen sind auf ein Minimum beschränkt worden im Hartz-4-System. Das Gesundheitssystem ist krank; es gibt viel zu viele Todesfälle in Krankenhäusern. Staatliche solche sind geschlossen worden. Auf dem Land gibt es in der Fläche in vielen Gebieten zuwenig Versorgung. Und so geht es weiter. Weniger Geld für noch viel weniger Leistung also.
So schön es für jeden ist, weniger Steuern und Abgaben zu bezahlen: wer nicht in Betracht zieht, was er im Gegenzug dafür bekommt, der macht einen schweren Fehler. Nur im Preis-Leistungsverhältnis zeigt sich, ob man wirklich ein gutes Geschäft macht oder vielmehr ein sehr schlechtes.
Zumal es in einem Staat noch etwas anderes zu bewerten gibt: die Verteilungsfrage nämlich. Bekommt jeder seinen fairen Anteil von der Produktivität ab? Und falls nicht – in Deutschland steigen die Löhne ja schon lange nicht mehr mit der Produktivität – wer bekommt das ganze Geld dann? Und wer bezahlt tatsächlich die Steuern, und wer schon lange nicht mehr? Wer das wissen will, muss sich nur anschauen, welche Bevölkerungsschicht ständig immer noch märchenhaft reicher wird (die ganz reiche nämlich), und welche Schichten dagegen stagnieren oder zurückfallen (alle anderen).
Wer das erkennt, der beginnt zu verstehen, worum es bei der “schwarzen Null” und der Steuersenkung in Wirklichket geht: um den Rückbau des Staates nämlich. Fast alle Menschen in Deutschland sind auf staatliche Infrastruktur vom Gesundheitssystem über die Polizei, Schulen, Strassen bis hin zu öffentlichen Schwimmbädern sowie dem Sozialsystem und der Rente angewiesen. Nur die Superreichen brauchen das nicht, nichts davon.
Wer also als einzige Gruppe vom Rückbau des Staates profitieren wird, liegt auf der Hand. Darum geht es in Wirklichkeit bei der Refeudalisierung.