Was ist eine Nation?
Ich möchte mit Ihnen gemeinsam eine Idee untersuchen, die obwohl sie dem Anschein nach klar zu sein scheint, zu den gefährlichsten Mißverständnissen Anlaß gibt. Die menschliche Gesellschaft hat die verschiedensten Formen. Die großen Ansammlungen von Menschen wie in China, Ägypten, dem ältesten Babylonien; die Stadt nach Art der Athener und Spartas; die Vereinigungen verschiedener Länder nach Art des Karolingischen Reiches; die Gemeinschaften ohne Vaterland, die vom Band der Religionen zusammengehalten werden, wie die Israeliten; die Nationen wie Frankreich, England und die meisten autonomen Staaten des modernen Europa; die Konföderationen von der Art der Schweiz, Amerikas; die Verwandtschaftsbeziehungen, welche die Rasse oder, besser, die Sprache zwischen den verschiedenen Zweigen der Germanen, der Slawen schafft - alle diese Formen des Gruppenlebens gibt es oder hat es jedenfalls gegeben. Man sollte sie nicht miteinander verwechseln, wenn man sich nicht das größte Ungemach einhandeln will. Zur Zeit der Französischen Revolution glaubte man, daß sich die Institutionen der kleinen unabhängigen Städte auf unsere großen Nationen von dreißig bis vierzig Millionen Menschen übertragen ließen. Heute begeht man einen noch schwerer wiegenden Fehler: Man verwechselt die Rasse mit der Nation und spricht den ethnischen oder besser den sprachlichen Gruppen eine Souveränität nach dem Muster der wirklich existierenden Völker zu. Versuchen wir also, über diese schwierigen Fragen nachzudenken, bei denen die geringste Unklarheit über den Sinn der Worte am Ende zu den verhängnisvollsten Irrtümern führen kann. Was wir vorhaben, ist delikat. Es kommt fast einer Vivisektion gleich; wir behandeln die Lebenden dabei so, wie man gewöhnlich die Toten behandelt. Wir werden mit Kälte, mit absoluter Unparteilichkeit an die Sache herangehen.