Die Enteignung funktioniert nicht über Negativzinsen, sondern über die Senkung der Arbeitseinkommen
Ich werde immer wieder in Diskussionen mit der Aussage konfrontiert, mit den niedrigen Bankzinsen würde “das Volk enteignet”. Ironischerweise ist da etwas dran, auch wenn es anders als befürchtet funktioniert: eine Enteignung der Masse der Bevölkerung findet tatsächlich statt, aber anders wie von vielen vermutet geht der Trick nicht über Bankzinsen, sondern über's Arbeitseinkommen. Und das geht so:
Die unteren Gesellschaftsschichten hängen komplett am Arbeitseinkommen, weil sie praktisch kein Vermögen haben. Wenn das Arbeitseinkommen sinkt, sinkt deshalb ihre Teilhabe am Wirtschaftsergebnis. Die untersten Schichten hängen an der sozialen Alimentierung. Aber diese ist immer mit dem Arbeitseinkommen der unteren Schichten verbunden – man sieht das in der Diskussion, sie dürfe nicht zu hoch werden, damit sich das Arbeiten in Niedriglohnjobs noch lohne.
Die mittleren Gesellschaftsschichten hängen zum grössten Teil am Arbeitseinkommen. Ihre Vermögensbildung läuft über das Arbeitseinkommen: Vermögen wird “erspart”. Sie erben zwar auch hin und wieder, aber im Verhältnis spielt das Arbeitseinkommen die grössere Rolle. Sie erhalten auch Kapitaleinkommen, sprich: Zinsen, aber im Verhältnis spielt das Arbeitseinkommen die grössere Rolle.
Die oberen Gesellschaftsschichten schliesslich bilden ihr Vermögen im Wesentlichen durch Erben und Kapitaleinkommen. Ihr Arbeitseinkommen spielt nur eine untergeordnete Rolle. Die Unterschiede sind so eklatant, dass man die Schichten über ihr Verhältnis zum Arbeitseinkommen definieren kann.
Wann steigt nun das Arbeitseinkommen, wann fällt es? Der Trick liegt im relativen Wert des Geldes.
Es ist eben nicht so, dass 1000 EUR 2015 doppelt so viel wert sind wie 500 EUR 2010. Sondern der Wert des Geldes selbst ändert sich mit der Zeit. Ökonomisch drückt man die Änderung des Wertes des Geldes als Inflation aus. Damit ist auch gesagt, dass der Wert des Geldes einen Zerfall erfährt, was die Regel ist. Dieser Wertezerfall wird im Geldkreislauf gesteuert. Er ist erwünscht, weil man über den Wertezerfall des Geldes, eben die Inflation, ökonomische Mechanismen steuern kann, indem man die Interessen der Marktteilnehmer manipuliert. Ausnahmsweise kann es zu einer Deflation, also zu einer Zunahme des Wertes des Geldes kommen. Aber in der Regel liegt Inflation vor.
Ein Beispiel:
Nehmen wir Herrn Krause mit einem monatlichen Arbeitseinkommen von 3000 EUR in 2010. Bei einer Inflation von 0 sind das 36'000 EUR(2010) Arbeitseinkommen im Jahr. Nach fünf Jahren sind es 180'000 EUR(2010) Arbeitseinkommen. Es sind auch 180'000 EUR(2015) Arbeitseinkommen, weil ja die Inflation 0 ist – somit ist 1 EUR(2010) = 1 EUR(2015).
Was aber, wenn nun die Inflation 2% ist? Dann ist 1 EUR(2011) = 0.98 EUR(2010). Es ist 1 EUR(2012) = 0.98 EUR(2011). Es ist 1 EUR(2013) = 0.98 EUR(2012). Es ist 1 EUR(2014) = 0.98 EUR(2013). Und es ist 1 EUR(2015) = 0.98 EUR(2014).
Im ersten Jahr bekommt Herr Krause also 36'000 EUR(2010). Aber im zweiten Jahr nicht mehr – da bekommt er nur 36'000 EUR(2011), das sind 35'280 EUR(2010). Sein Gehalt wurde also nicht im Nennwert gesenkt, wohl aber im Marktwert. Er hat den Eindruck, er bekäme immer noch gleich viel, tatsächlich fehlen ihm jedoch bereits 720 EUR(2010) in der Tasche.
Wie sieht es nun nach fünf Jahren aus? Herr Krause bekommt:
36'000 EUR(2010) + 35'280 EUR(2010) + 34'574 EUR(2010) + 33'883 EUR(2010) + 33'205 EUR(2010) = 172'942 EUR(2010).
Ihm fehlen also insgesamt nach 5 Jahren bereits 7'058 EUR(2010). Der Wertverlust geht jedoch nicht linear, sondern exponentiell. Nach 10 Jahren sind es bereits 5985 EUR(2010) pro Jahr, die ihm fehlen – sogar wenn nun die Inflation wieder ausgeglichen wird, und es werden ihm ab da 2% Gehaltserhöhung jedes Jahr zugestanden, so verliert er weiter jedes Jahr 5'985 EUR(2010) – nach weiteren 10 Jahren hat er bereits 60'000 EUR(2010) verloren. Und das nur, weil 10 Jahre lang die Inflation da war, er hat aber keinen Ausgleich in Form einer Lohnerhöhung bekommen.
Wie ist nun diese verdeckte Senkung der Arbeitseinkommen in Deutschland tatsächlich gelaufen? Schauen wir mal auf die Statistik von 1990 bis 2010. 1990 hiess der EUR noch ECU, aber der ECU würde nur in EUR umbenannt. Wir haben es also mit 1 ECU(1990) = 1 EUR(1990) zu tun.
Die Methode, die bisher angewendet wurde: sich ein Jahr für den Währungswert herauspicken (im Beispiel 2010), ist nun sehr üblich, um die Wertentwicklung eines Arbeitseinkommens im Marktwert zu verfolgen. Das Einkommen gemessen im Marktwert nennt man ökonomisch das Realeinkommen, und das wird genau so gerechnet. Das, was man auf dem Gehaltszettel findet, und was immer in aktueller Währung ausgedrückt ist, nennt man im Gegenzug das Nominaleinkommen. Das Realeinkommen ist es jedoch, dass die Marktteilhabe wesentlich besser beschreibt.
Solche Artikel sollten nun aufmerken lassen:
Reallöhne sind seit 1990 um bis zu 50 Prozent gesunken
Schlechte Nachricht: Die Beschäftigten in Deutschland verdienen einer Studie zufolge heute unterm Strich weniger Geld als noch 1990. In jedem zweiten der 100 gängigsten Berufe sei das Realeinkommen seit Anfang der neunziger Jahre gesunken, berichtet der “Stern” in seiner aktuellen Ausgabe.
50% ist ein Spitzenwert in einer Berufsgruppe. Die Entwicklung war jedoch in den verschiedenen Berufsgruppen sehr unterschiedlich. Allerdings ist eine Senkung des Realeinkommens in über der Hälfte der Berufe der Fall – die jedoch jeweils wieder unterschiedlich viele Leute haben, die diesen Beruf ausüben. Wie ist sie nun für die meisten Deutschen?
Es gibt einen statistischen Trick um festzustellen, wie sich eine Grösse (im Beispiel das reale Arbeitseinkommen) für die meisten Leute entwickelt. Denn der Durchschnittswert sagt das nicht aus – was einige Leser überraschen mag. Das Problem ist das folgende:
Wenn 10 Leute 1000 EUR im Jahr bekommen, und 1 bekommt eine Million, dann bekommen die 11 Leute durchschnittlich jeder 91'818 EUR im Jahr. Die allermeisten der 10 würden nun sagen: schön wär's, ich krieg über 90'000 EUR weniger! Und der eine mit der Million würde vielleicht im Understatement feststellen: “In etwa” ;-) Der Durchschnittswert ist also eine statistische Grösse, die über sehr ungleich verteilte Werte wenig aussagt.
Was eigentlich korrekt wäre, wäre die Aussage: “In der Regel (bis auf Ausnahmen) bekommt jeder der 11 jeweils 1000 EUR”. Und die Ausnahme wäre der 1, der eine Million bekommt. Diese statistische Grösse gibt es, es ist der Median. Nehmen wir unsere oben genannte Beispielreihe:
1000 1000 1000 1000 1000 1000 1000 1000 1000 1000 1'000'000 ^^^^ (Median)
Der Median ist der mittlere der Werte einer geordneten Wertereihe. Bei den 11 nach Grösse sortiert wäre es also der sechste der Werte. Und der wäre immer noch 1000 EUR – der Wert, den die Leute in der Regel bekommen.
Wie sieht nun also die Entwicklung des Medians des Reallohnes in Deutschland aus? Denn das ist die eigentlich wichtige Frage für die meisten Deutschen.
Es ist nun kein Zufall, dass man an solche Zahlen schwer kommt. Alles, was die Politik veröffentlicht, bezieht sich in der Regel auf den Durchschnitt. Die Qualitätsmedien scheinen den Median gar nicht zu kennen – man findet praktisch immer Artikel über die durchschnittliche Entwicklung – wenn überhaupt (oder, was viel häufiger ist, Jubelartikel mit “Lügen mit Zahlen”). Dass es um den Median der realen Arbeitseinkommen nicht gut bestellt ist, zeigt jedoch bereits dieser Bericht der Bundeszentrale für politische Bildung hier:
Im Zeitraum 1992 bis 2012 sanken die Reallöhne um 1,6 Prozent. […] Allerdings bestehen Unterschiede zwischen den einzelnen Arbeitnehmergruppen. Beispielsweise sind die nominalen Bruttomonatsverdienste für Arbeitnehmer in leitender Stellung (plus 15,5 Prozent) und für herausgehobene Fachkräfte (plus 12,8 Prozent) überdurchschnittlich stark gestiegen. Fachkräfte (plus 10,9 Prozent), angelernte Arbeitnehmer (plus 10,0 Prozent) und ungelernte Arbeitnehmer (plus 9,8 Prozent) konnten zwar auch die Steigerung der Verbraucherpreise (plus 8,3 Prozent) kompensieren, die Verdienste nahmen aber trotzdem nur unterdurchschnittlich zu. Entsprechend hat sich der Lohnabstand zwischen den einzelnen Arbeitnehmergruppen von 2007 bis 2012 vergrößert.
Die Reallöhne sind also bereits im Durchschnitt gefallen! Schaut man den Median an, dann ist es noch deutlicher: denn gleichzeitig ist der Lohnabstand gestiegen. Und das bedeutet: der Median der realen Arbeitseinkommen ist sehr stark gefallen.
Eine der seltenen Ausnahmen ehrlicher Berichterstattung in den Qualitätsmedien macht dieser Artikel hier; man sieht an den dort veröffentlichten Zahlen, dass die realen Arbeitseinkommen im dortigen Messbereich von 2000 bis 2010 durchschnittlich um 4.2% gefallen sind, im Median jedoch sogar um 7.4%!
Wenn man heute 20 Jahre gearbeitet hat, dann ist man in die übelste Zeit gekommen. Denn der Median der Arbeitseinkommen ist die letzten 20 Jahre um nicht weniger als 10% gefallen. Und das bedeutet: alle 10 Jahre fehlt einem bereits ein vollständiges Jahreseinkommen – man wurde also um zwei Jahreseinkommen enteignet! Rentner wurden sogar noch mehr enteignet, weil ihre Rente auch nominell kräftig gesenkt wurde – nicht dem einzelnen Rentner, wohlgemerkt, wurde die Rente gesenkt, sondern die neue Generation Rentner bekommt jedesmal auch nominell weniger Rente als die vorherige.
Das ist die Enteignung, die tatsächlich läuft – und die mit der sogenannten “Agenda 2010” befeuert wurde. Es ist diese Enteignung, die für immer mehr Leute zu Altersarmut führt.
Der Gesamtkuchen ist über die positive Entwicklung der Produktivität jedoch stetig grösser geworden – von einem jedes Jahr grösseren Kuchen geben die Kapitaleigner, die im Wesentlichen Kapitaleinkommen haben, jedes Jahr real immer ein noch kleineres Stück ab.
Kein Wunder, dass die Kapitaleinkommen entsprechend regelrecht durch die Decke gehen.