Man sollte mit der Figur Erdoğan und dessen Wähler etwas überlegter umgehen
Zu Erdoğan sollte man wissen, dass dieser Politiker als erster in der Provinz kräftig investiert hat, und nicht nur in Istanbul und der Hauptstadt Ankara. Deshalb lieben ihn seine Wähler: er hat ihnen das Gefühl gegeben, die korrupten Machtstrukturen in der Türkei aufzuweichen, und Arbeit und Brot auch in die Provinz zu bringen.
Entsprechend ist Erdoğan in der Provinz oft beliebter als in den grossen Städten. Und auch in Deutschland, in dem viele Türken leben, die Familienbande in die Provinz haben in der Türkei, ist er zumindest eine umstrittene Person: er polarisiert, die einen sind völlig gegen ihn, die anderen verteidigen ihn.
Es handelt sich bei der Türkei nicht um eine in jeder Hinsicht stabile Demokratie. Auch ohne Erdoğans Präsidialsystem gab es über Jahrzehnte unterdrückte Bevölkerungsgruppen wie beispielsweise die Kurden. Das wird nun mit dem neuen System nicht besser werden, im Gegenteil. Aber die ach so freie türkische Presse hat im Wesentlichen immer eine rein städtische Sicht auf die Dinge vertreten – und somit wurden die Interessen von Millionen von Türken über Jahrzehnte missachtet.
Erdoğan, dessen lasische Familie aus Rize bei Georgien stammt, gilt deshalb unter so vielen Türken als Heilsbringer. Man sollte sich natürlich auch hier besser keinerlei Illusionen hingeben: Heilsbringer gibt es in der Politik niemals. Es steht leider zu erwarten, dass Erdoğan nun seinem im Netz verbreiteten Namen “Döner-Hitler” gerecht werden wird.
Die Forderung, dass man die doppelte Staatsbürgerschaft für Leute überdenken sollte, die sich mit Erdoğan für Todesstrafe und das Verhaften und Verfolgen von Journalisten und politischen Gegnern aussprechen, hat also durchaus ihre Berechtigung. Nur ist es überhaupt erst zu dieser Entdemokratisierung der Türkei gekommen, weil nie offen diskutiert wird, was eigentlich politisch überfällig war; auf diese Weise geht es der Türkei wie jetzt vielleicht Frankreich: die Demokratie wackelt und zerbricht.