Die NZZ zeigt Angst vor ihren Lesern
Die Ausreden gibt es hier; sie sind altbekannt:
Es hat sich etwas aufgestaut in der Kommentarspalte von NZZ.ch. Die Stimmung ist gehässiger geworden. Wir stellen – etwas zugespitzt – fest: Wo früher Leserinnen und Leser kontrovers miteinander diskutiert haben, beschimpfen sie sich immer öfter. Wir werden zunehmend als «Systempresse» oder «Propagandaschleuder» betitelt statt auf inhaltliche Fehler aufmerksam gemacht. In vielen Kommentaren wird nicht mehr Information ausgetauscht, sondern in einer Absolutheit doziert, die andere per se ausschliesst. Entsprechend schwer tun wir uns selber mit unserer Kommentarspalte. Viele NZZ-Journalisten lesen die Leserkommentare nicht mehr. Wir mussten darum auf diese Situation reagieren und einen Weg zurück zu einer konstruktiven Diskussionskultur einschlagen.
Die “konstruktive Diskussionskultur” soll also daher kommen, dass man filtert, was überhaupt diskutiert werden darf, und dann bestimmt, welche Meinungen genehm und welche es nicht sind.
Ich kann nur sagen, ich bedaure diese Entwicklung zutiefst und denke, die Redaktion der NZZ macht einen schweren Fehler. Diese Massnahme wird nicht zu mehr Vertrauen in die NZZ führen, sondern auch diese Zeitung in denselben Untergang, der auch für die anderen grossen Zeitungen bereit steht, die diesen Irrweg gehen. Als gelegentlicher Autor der NZZ und überzeugter linker Liberaler bedrückt mich diese Entscheidung besonders. Mit der NZZ siecht eine ehemals liberale Zeitung, die heute oft nur noch im Wirtschaftliberalismus verharrt. Durch die Fehlentscheidung der Paywall, die sich nach zehn Aufrufen einschaltet, hindert mich die NZZ nun schon seit langem, dass ich ihre Artikel hier im Blog verlinke. Statt jedoch diesen Fehler zu korrigieren, verharrt die Redaktion in ihrem völligen Unverständnis der Dynamik des Webs, und trifft noch mehr Fehlentscheidungen.
Ich beginne die Hoffnung zu verlieren, dass die NZZ es schaffen kann, ihre Position zu halten – Wachstum ist ja ohne tiefes Verständnis des Webs sowieso nicht drin. Dabei zeigt der Heise-Verlag der gesamten Zeitungsbranche seit so vielen Jahren, wie man ein offenes Forum gestalten kann, das von den Lesern angenommen und akzeptiert wird. Aber das wird wohl einfach nicht nur Kenntnis genommen. Schade – warum eigentlich nicht? Wäre es nicht im Sinne aller, dass das passiert, einschliesslich der Redaktion?