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Die Anschläge von Paris dürfen nicht Europas 9/11 werdenNeues von der Kinderfickerfront – Überlebende der Missbrauchsfälle: Kommittee-Vorsitzender Keith Vaz gefährdet sie, indem er ihre privaten Daten im Web veröffentlicht

Offener Brief an alle deutschen Leser: Was Ihnen nie über Griechenland erzählt wurde

Alexis Tsipras' “offener Brief” an die deutschen Bürger, der am 13. Januar im Handelsblatt veröffentlicht wurde

Die meisten von Ihnen, liebe Handelsblatt-Leser, werden sich eine vorgefasste Meinung gebildet haben über den Inhalt dieses Artikels, bevor Sie ihn gelesen haben. Ich bitte Sie inständig, nicht einem solchen Vorurteil zu unterliegen! Vorurteile sind nie ein guter Ratgeber, insbesondere nicht in Zeiten, in denen Wirtschaftskrisen Klischees zu bestätigen scheinen und Engstirnigkeit, Nationalismus oder gar Gewalt hervorbringen.

2010 war der griechische Staat nicht mehr in der Lage, seine Schulden zu bedienen. Unglücklicherweise gaben EU-Vertreter vor, dass dieses Problem durch den grössten Kredit aller Zeiten unter Austeritätsbedingungen gelöst werden könnte, wobei diese mit geradezu mathematischer Präzision das nationale Einkommen veringern mussten, aus dem jedoch sowohl die neuen als auch die alten Schulden gerade bezahlt werden müssen. Ein Insolvenz-Problem wurde behandelt, als sei es ein Problem einer [kurzfristigen] Illiquidität.

Anders gesagt übernahm Europa die Taktik der wohl am wenigsten achtbaren Banker, die sich weigern, schlechte Kredite zu erkennen, und es vorziehen, neue an die insolvente Entität zu vergeben, um zu simulieren, dass der Originalkredit schon in Ordnung sei, während sie den Bankrott in die Zukunft verschieben. Nichts weiter als gesunder Menschenverstand hätte ausgereicht um zu erkennen, dass dieser Versuch einer “Verschieben und Heucheln”-Taktik mein Land in eine tragische Verfassung stürzen wird. Anstatt also Griechenlands Stabilisierung anzustreben, führte Europa eine sich immer weiter selbst verstärkende Krise herbei, die die Grundlagen Europas selbst unterminiert.

Meine Partei sowie ich persönlich haben aufs Schärfste gegen die Kreditvergabe im Mai 2010 protestiert, und zwar nicht deshalb, weil Sie, die Bürger Deutschlands, uns etwa nicht genügend Geld geben würden, sondern im Gegenteil, weil Sie uns viel zu viel gegeben haben, und viel, viel mehr als unsere Regierung hätte annehmen dürfen. Geld, das in keinem Falle dem griechischen Volk geholfen hat (weil es nämlich ins Bodenlose unhaltbarer Schulden geworfen wurde), noch dazu dienlich war, das Aufblasen der griechischen Staatsschulden zu mässigen, sondern ausschliesslich unermesslich teuer für den griechischen wie auch den deutschen Steuerzahler kam.

Tatsächlich haben sich unsere Befürchtungen nach nicht einmal einem Jahr, nämlich von 2011 an, bewahrheitet. Die Kombination gigantischer neuer Schulden mit gleichzeitigen strengen Kürzungen bei den Staatsausgaben, die die Einnahmen hinunterdrückten, war nicht nur ungeeignet, die Neuverschuldung zu beschränken, sondern bestrafte zudem ausgerechnet die schwächsten Bürger, die bisher ein angemessenes und gemässigtes Leben führten, und verwandelte sie in Arme und Bettler, raubte ihnen ihre Würde. Der Zusammenbruch auf der Einnahmenseite zwang tausende Unternehmen in den Bankrott, und beförderte Oligopole der überlebenden Grossunternehmen. Seither sind die Preise gefallen, jedoch langsamer als Löhne und Gehälter, und haben somit die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen niedergedrückt, sowie die nominalen Einkommen regelrecht zerschmettert, während die Schulden weiter unerbittlich neue Höchststände erreichen. Unter diesen Bedingungen griff Hoffnungslosigkeit unkontrollierbar um sich, und, bevor wir uns dessen bewusst wurden, wurde das “Schlangenei” ausgebrütet – im Ergebnis bekamen wir Neonazis, die unsere Wohngebiete patrouillieren und ihren Hass verbreiten.

Trotz dieser evident gescheiterten Logik des “Verschiebens und Heuchelns” wird bis heute weiter so verfahren. Der zweite griechische “Bailout”, der im Frühjahr 2012 durchgeführt wurde, legte weitere gigantische Schulden auf die sowieso schon geschwächten Schultern des griechischen Steuerzahlers, bewirkte einen “Haircut” in unserer Sozialversicherung, und finanzierte eine ruchlose neue Kleptokratie.

Anerkannte Kommentatoren wollen nun Griechenlands Stabilisierung erkennen, ja sogar Zeichen des Wachstums. Tatsächlich ist die “Greek-covery” [griechische Erholung] nichts als ein Trugbild, das wir so schnell wie möglich ad acta legen müssen. Der kürzliche mässige Anstieg des realen BIP in einer Grössenordnung von 0.7% zeigt keinesfalls das Ende der Rezession an (wie verschiedentlich behauptet wird), sondern leider nur deren Fortsetzung. Denken Sie bitte darüber nach: Dieselben offiziellen Quellen berichten für dasselbe Quartal eine Inflationsrate von -1.80%, also eine Deflation. Und das bedeutet schlicht, die [scheinbaren] 0.7% Wachstum im realen BIP errechnen sich alleine aus einer negativen Wachstumsrate des nominalen BIPs! Anders formuliert passierte hier nichts anderes als dass die Preise noch schneller fielen als das nominale nationale Einkommen. Das ist nun wahrlich nicht gerade ein Grund, von einem Ende der sechsjährigen Rezession auszugehen!

Bitte erlauben Sie mir, Sie darauf hinzuweisen, dass dieser jämmerliche Versuch, eine neue Version “griechischer Statistik” zu erfinden, nur um die andauernde griechische Krise für beendet zu erklären, eine Beleidigung aller Europäer darstellt, die schliesslich die Wahrheit über Griechenland und über Europa [zu erfahren] verdienen. Lassen Sie mich offen sprechen: Griechenlands Schulden sind derzeit unhaltbar, und werden niemals zurückgezahlt, und zwar insbesondere deshalb, weil Griechenland ständigem fiskalem Waterboarding unterworfen wird. Das Beharren auf dieser Sackgassen-Politik sowie das Verleugnen simpler Arithmetik kommt den deutschen Steuerzahler teuer, während zugleich eine stolze europäische Nation ständige Demütigung erfährt. Und was noch schlimmer ist: dadurch ist es keine Überraschung, dass bereits lange bevor sich Deutsche gegen Griechen wenden und Griechen gegen Deutsche, die Europäische Idee katastrophale Schäden zu verzeichnen hat.

Deutschland – und insbesondere die hart arbeitenden deutschen Arbeitnehmer – haben nichts von einem SYRIZA-Sieg zu befürchten. Ganz im Gegenteil. Unsere Aufgabe sehen wir nicht darin, unsere Partner zu brüskieren. Sie besteht nicht darin, uns noch grössere Schulden zu sichern, oder, was gleichbedeutend ist, das Beenden der grossen Klemme der schwächeren griechischen Steuerzahler im Sinne einer Kreditvereinbarung, die schlicht nicht durchzusetzen ist. Wir fühlen uns verpflichtet, die “Verschieben und Heucheln”-Logik zu beenden, und zwar nicht gegen deutsche Bürger, sondern wir haben die gegenseitigen Vorteile aller Europäer im Blick.

Liebe Leser, ich verstehe, dass sich hinter Ihrem “Bedürfnis”, unsere Regierung möge alle “Vertragsbedingungen” erfüllen, die Angst verbirgt, dass, wenn Sie uns Griechen Luft zum Atmen lassen, wir zu unseren schlechten, alten Gewohnheiten zurückkehren werden. Ich verstehe diese Befürchtungen. Wie dem auch sei, bitte lassen Sie mich darauf hinweisen, dass es nicht SYRIZA war, die die Kleptokratie ausbrütete, die heute heuchelt, sich um “Reformen” zu bemühen, solange diese “Reformen” ihre zu unrecht erworbenen Privilegien nicht berühren. Wir sind willens und bereit, wesentliche Reformen auf den Weg zu bringen, für die wir nun das Mandat vom griechischen Wähler erbitten, selbstverständlich in Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern.

Unsere Aufgabe besteht darin, einen europäischen New Deal auf den Weg zu bringen, unter dem unser Volk wieder atmen, schaffen und in Würde leben kann.

Eine grosse Chance für Europa entsteht in Griechenland am 25. Januar. Eine Chance, die sich Europa nicht entgehen lassen darf!

(Quelle: SYRIZA)

Siehe auch: diese deutsche Fassung des Briefes bei Radio Korfu (Danke, Sascha!)

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